Freiburger Theater

Schlamm

Von Maria Irene Fornes


Mae: Brigitte Beyeler
Lloyd: Dimitrios Tellis
Henry: Helmut Grieser

Regie: Karsten Schiffler
Bühne: Beatrix von Pilgrim
Kostüme: Gaby Lenz
Musik: Martin Magestro
Dramaturgie: Martina Döcker




30 Jahre Off-Off-Broadway Theater
Über Maria Irene Fornes

In den 60er Jahren sind Fornes' "verwirrende, originelle Fantasien" (David Savran) nicht vom Off-Off-Broadway wegzudenken. Sie gehört fest zur amerikanischen Theater-Avantgarde.
1972 beginnt ein neuer Lebensabschnitt: mit anderen Frauen hebt sie das Women's Theater Council aus der Taufe, das Dramatikerinnen fördern und ihre Stücke verbreiten will. Dieser Organisation bleibt sie bis zur Auflösung 1979 treu (als ihr schon längst auch Männer angehören, was 1973 die Umbenennung in Theater Strategy zur Folge hatte). Administrative Aufgaben lassen Fornes kaum Zeit zum Schreiben. Erst 1977 entsteht das nächste wichtige Stück: "Fefu and Her Friends". Es markiert nicht nur einen Neuanfang in ihrem dramatischen Schaffen, sondern einen Umbruch in ihrem Stil und in ihrer Figurenzeichnung.

In den 80er Jahren kann sich Fornes erneut erfolgreich als experimentelle Dramatikerin etablieren. Bis heute entsteht jährlich mindestens ein Stück. Hinzu kommen mehrere Adaptionen und Übersetzungen spanischsprachiger Dramen. Bisher sind etwa 40 Manuskripte in der Lincoln Center Library of the Performing Arts in New York gesammelt.

 

Maria Irene Fornes inszeniert ihre eigenen, aber zunehmend auch andere Texte. Sie unterrichtet szenisches Schreiben an Universitäten und vor allem bei INTAR in New York, einem hispanischen Kulturzentrum.
Sie ist eine der wenigen Autoren und Autorinnen der ersten Off-Off-Broadway Generation in den USA, die nach über dreißig Jahren weiterhin für das Theater schreibt. Aber erst seit Mitte der achtziger Jahre gilt sie als eine "major voice" im amerikanischen Theater. Die Zahl der Essays und Aufsätze zu ihren Arbeiten nimmt in den letzten Jahren zu, allerdings liegt noch keine Monographie vor. Das mag unter anderem daran liegen, daß sie die Auswahl und den Einsatz ihrer dramatischen und ästhetischen Mittel so sehr variiert, daß die Heterogenität des Gesamtwerkes einen wissenschaftlich-analytischen Zugang erschwert. In den meisten der bisher vorliegenden Aufsätze wird versucht, eine Bedeutungslinie oder ein formales Charakteristikum aus den vielschichtigen Texturen zu lesen. Aus all diesen Annäherungen läßt sich erkennen, daß Fornes' Texte in der modernen Tradition von nichtillusionistischem Theater stehen und sich die Figuren der Stücke einfachen psychologischen und soziologischen Erklärungsmustern entziehen. Im Versuch der Kennzeichnung als "absurde", "feministische", "surrealistische" bzw. "hyper-realistische", "moderne" oder "postmoderne" Autorin - geht die Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit der Texte leicht verloren. 


30.September 1995

 

 

Karsten Schiffler inszenierte in Freiburg "Schlamm" von Maria Irene Fornes
Haßliebegewaltverkrallung

Ein Kellerlochdrama für drei Personen, eine Haßliebegewaltverkrallung auf engstem Raum. "Schlamm" heißt, vielsagend, das Stück. Geschrieben hat es 1983 die Broadway-Avantgardistin Maria Irene Fornes, die heute als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Bühne gilt. Die 17 kurzen Szenen verbinden klassische sozialkritische Traditionen mit Beckettschen Endspiel-Ritualen, kreuzen Rinnstein- und Menschheitsperspektive. Der Blick richtet sich auf die Gosse - und greift aus ins Universelle.

Beim Theatertreffen 1994 hatte der blutjunge Karsten Schiffler für eine kleine Sensation gesorgt: Mit einem unbekannten Stück und einer namenlosen Truppe - vorwiegend Schauspielschüler aus Bochum - war er überraschend nach Berlin eingeladen worden. Völlig zu Recht, wie sich herausstellte: In seiner Inszenierung lernte man Antonio Buero-Vallejos "Brennende Finsternis" - Szenen aus einer Lehranstalt für Blinde - als hochspannende Parabel auf das faschistische Spanien der Franco-Jahre kennen.

Der gleiche Regie-Youngster hat nun in Freiburg "Schlamm" einstudiert - und dabei wieder, allerdings an einer kleineren, personenärmeren Vorlage als damals in Bochum, sein großes Talent bewiesen. Die Aufführung im Kammertheater ist dicht und bis in die Details sorgfältig gearbeitet, das Schauspielertrio vorzüglich auf die Anforderungen des Textes eingestellt.

Zwei Männer, eine Frau: Ausgestoßene der Gesellschaft, Underdog-Existenzen. Mae, eine junge, energische Frau Mitte zwanzig, und Lloyd, gleichen Alters, aber ungleich passiver, vegetieren, offenbar schon seit einer kleinen Ewigkeit, zusammen in einer schäbigen Kellerkatakombe (Beatrix von Pilgrim hat die fensterlose Höhle in frostigen Braun- und Blautönen ausgetüncht). Rüde, höhnisch, aggressiv geht es zu zwischen den beiden; es hagelt obszöne Four-letterwords, häßlicher geht's nimmer, die zwei sind miteinander am Ende. Warum das alles so ist, geworden ist - das Stück liefert keine Erklärungen oder Schuldzuweisungen, es zeigt nur, was passiert. Diese Menschen reflektieren nicht, sie reagieren nur. Brigitte Beyeler skizziert mit wenigen sicheren Strichen, wieviel Kraft, Aufbruchssehnsucht doch noch in ihr steckt; "eine hungernde, eine dürstende Seele", suchend, fragend, kämpfend. Lloyd dagegen, ein leicht debiler Analphabet, hat sich längst mit der Misere abgefunden; er ist krank, impotent, heruntergekommen. Gutmütiger Trottel, wild aufbrausendes Tier, primitiver Macho: Dimitrios Tellis beherrscht alle Register dieser Rolle.
Mae trotzt auf, will raus aus dem Schlamm. Sie will später einmal "sauber sterben" dürfen, in weißen Laken. In Volkshochschulkursen lernt sie lesen und schreiben - und dann auch Henry kennen, der ihr Vater sein könnte; sie bringt ihn mit ins Haus. Helmut Grieser spielt einen mürben, graumelierten Gockel, eher albern in seinem überlegenen, halbgebildeten Gehabe - Typ jovialer Schwätzer.
Doch für Mae ist er, zunächst jedenfalls, der reine Segen. Sie fühlt sich verstanden von ihm, ja erhöht (es gibt eine sehr schöne, sehr innige Szene zwischen den beiden, als Henry ihr einen Lippenstift schenkt). Der neue Freund - zu Maes Rührung kann er sogar richtig beten - nistet sich ein im Haus, verdrängt Lloyd aus Bett und angestammter Stellung; der verkriecht sich wimmernd, schmollend unterm Tisch. Zwangsgemeinschaft zu dritt - gefährlich, komisch, labil.
Dann die Katastrophe: Henry ist nach einem Sturz gelähmt, ein Pflegefall. Jetzt spitzt Schiffler die Szenen heftig zu: An die Stelle kalter (und manchmal auch kalt lassender) Elends-Bestandsaufnahme tritt nun ein greller, irrlichternder Witz. Der Kretin und der Krüppel belauern, bekriegen sich bis aufs Blut. Tellis trumpft als Springteufelchen gegenüber dem Lahmen auf, beim Füttern haut er ihm den Haferbrei um die Backen; Henry rächt sich, indem er dessen hilflose Buchstabierversuche gräßlich verlacht. Doch als Manns-Egoisten sind die zwei sich gleich, verbünden sie sich gegen die Frau. Die, genervt, voller Ekel, will jetzt endgültig beide verlassen - doch Mae-Noras Aufbruch aus dem Kellerloch endet knapp hinter der Haustür: zwei Schüsse aus Lloyds Gewehr - und wie ein erbeutetes Stück Wild, die Augen angstvoll aufgerissen, liegt sie blutend auf dem Küchentisch.

 

Karsten Schiffler hat zweierlei sorgsam vermieden: die Sozialschnulze ebenso wie das feministische Rührstück. Der Tonfall der Inszenierung bleibt jederzeit hart, unsentimental: der Regisseur als nüchterner Fotograf der Wirklichkeit, nicht als deren gefühliger Interpret. Auffällig, daß Schiffler diesen "fotografischen Effekt" - ein Regievorschlag der Autorin selbst - nicht nur aufgegriffen, sondern im Bühnenbild noch weitergeführt hat: Zwischen den Szenen erstarren die Schauspieler sekundenlang wie zu Eis - Standbilder, getaucht in kaltgelbes Licht. Und eine überdimensionale Kameralinse läßt sich auch assoziieren, wenn zu Beginn der Aufführung die Bühnenfront sich wie ein riesiges Klappmaul nach oben und unten auftut und am Ende, nach Lloyds Gewehrattacke auf Mae, wie eine Falle wieder zuschlägt. Schnapp-Schüsse einer Schlammschlacht.
GERHARD JÖRDER -
Badische Zeitung


 Offenburger Tageblatt, 21.10.95

Gefräßiger Lebenssumpf

M.I. Fornes Theaterstück "Schlamm" in Freiburg

Freiburg. Mae ist attraktiv. Sie weiß zwar nicht viel vom Leben, doch sie ist wißbegierig und besucht, etwas spät in ihren Jahren, die Schule. Mae will lesen lernen. Ihr vorrangiger Wunsch ist es, mit dem neuen Wissen ihren Lebenssumpf zu verlassen. Mae ist Teil dieses schier unerträglichen Sumpfes.

Schmerzliche Impotenz
Der andere Teil ist Lloyd, ein eher dumpf vor sich hin brabbelnder und schreiender Zeitgenosse, Arbeits-Tier und tierisch geil, halb Bruder, halb Lebensgefährte von Mae - wenn da nicht die Krankheit wäre. Lloyd plagt sich mit einer schmerzlichen Impotenz herum, die ihn zum Gespött Maes und damit immer mehr zum Wrack macht. Eines Tages bringt Mae den ältlichen Henry mit nach Hause. Er kann lesen, kann beten und erfolgreich den Platz im Ehebett einnehmen. Bis das Schicksal erneut zuschlägt.
"Schlamm" (Mud) heißt das Stück der in Amerika sehr erfolgreichen Dramatikerin Maria Irene Fornes. Zur Zeit wird es im Freiburger Kammertheater aufgeführt. Es thematisiert den (Über-)Lebenskampf dreier ebenso benachteiligter wie bemitleidenswerter Personen, die sich im Grunde nur auf eines verlassen können: auf ihren eigenen Egoismus. Er zwingt sie - im wahrsten Sinne des Wortes - über Leichen zu gehen. Jeder im Alltagskampf zugefügte Schmerz wird, zumeist mit roher Gewalt, zurückgezahlt.
Unter der Regie von Karsten Schiffler entstand am Kammertheater eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme dieser Verhältnisse. Ohne großen Schnörkel in Sprache und Ausstattung, in kurzen Szenen und mit szenenteilender, schriller Musik, wird ein psychologisch größtenteils nachvollziehbares Kräftediagramm der drei Handelnden, besser Reagierenden, aufgezeichnet, das beständig auf die eine oder die andere Seite hin umkippt.

 

Kalter Egoismus
So kalt wie die Menschen ihrem Egoismus frönen, so kalt das Licht, die (gutausgewählte) Bühne - kärgliches Inventar einer bäuerlichen Behausung. Nichts ist hier überflüssig, minimalistisch wie die durchschnittliche menschliche Existenz die Handlungsmuster. Mae (Brigitte Beyeler), Lloyd (Dimitrios Tellis) und Henry (Helmut Grieser) spielen ihre Rollen mit Einfühlungsvermögen, wobei die Emphase insbesondere von Tellis manchmal in den Bereich der Unglaubwürdigkeit abzurutschen droht.
Harald Merz 


 

 1 /96

 

Freiburg spielt wieder erste Liga
Zwischenbilanz Freiburg

(...)
Ins Kellertheater: eine "Schlamm"-Schlacht aus New York

Dann ein Sprung in die Eiseskälte: "Schlamm", ein Kellerlochdrama für drei Personen, aus der Feder der Off-Broadway-Autorin Maria Irene Fornes. Die 17 kurzen Szenen verschränken sozialkritische Tradition mit Beckettschem Endspielritual, kreuzen Rinnstein- und Menschheitsperspektive; der Blick richtet sich auf die Gosse - und greift aus ins Universelle. Der junge Regisseur Karsten Schiffler (beim Berliner Theatertreffen 1994 mit Antonio Buero-Vallejos "Brennender Finsternis" aus Bochum eingeladen) hat diese Doppelperspektive sorgfältig herausgearbeitet. Haßliebegewaltverkrallung auf engstem Raum: Lloyd, ein dumpfer, primitiver Trottel (Dimitrios Tellis, wild und gutmütig zugleich), lebt in einer fensterlosen Katakombe zusammen mit Mae; er ist krank, impotent, resigniert. Sie aber will raus aus dem Dreck, rebelliert: Brigitte Beyeler als "hungernde, dürstende Seele". Henry kommt ihr gerade recht. Ein jovialer Schwätzer (Helmut Grieser als mürber, graumelierter Gockel), der ihr mit seiner Bildung imponiert - oder dem, was sie darunter versteht. Was folgt, ist erst Krieg zu dritt und dann die Katastrophe. Mae-Noras ultimativer Aufbruch aus der Misere endet knapp hinter der Haustür; zwei Schüsse aus Lloyds Gewehr haben sie wie ein Stück Wild erlegt, die Augen angstvoll aufgerissen, liegt sie blutend auf dem Küchentisch.

Schiffler hat mit Bedacht die Sozialschnulze ebenso wie das feministische Rührstück vermieden - der Regisseur als nüchterner Fotograf der Wirklichkeit, nicht als deren gefühliger Interpret. Zwischen den Szenen erstarren die Schauspieler sekundenlang wie zu Eis, Standbilder, getaucht in kaltgelbes Licht. Manchmal flackert ein greller, irrlichternder Witz auf, es sind die besten Momente in einer dichten, subtilen Arbeit. (...)
Gerhard Jörder - Theaterheute


 Im Gefängnis des Ichs

"Schlamm" im Kammertheater der Städtischen Bühnen

Szenen einer Dreierbeziehung unter dem Brennglas: Mae lebt mit Lloyd. Mae könnte Lloyd vielleicht lieben, aber Lloyd ist krank und impotent. Weil Mae vom sozialen Aufstieg träumt, holt sie Henry ins Haus. Henry scheint klüger und verführerischer als Lloyd. Deshalb sticht Henry Lloyd aus. Doch Henry erleidet einen Schlaganfall. Lloyd wünscht sich, daß Mae nun Henry beiseite schiebt. Doch Mae verläßt die beiden und Lloyd erschießt sie.
Eine kurze, schnörkellose Geschichte, die Maria Irene Fornes in ihrem Stück "Schlamm" erzählt. Eine Geschichte, die scheinbar ohne konkreten Bezug zu gesellschaftlichen Zusammenhängen auskommt, die kein Milieu beschreiben, sondern das Netzwerk unheilvoller menschlicher Verstrickungen offenbaren will. Eine Geschichte, die eigentlich keine ist, die nur aus Versatzstücken ihrer selbst zu bestehen scheint. Eine Geschichte, so verstümmelt wie die Figuren, von denen sie erzählt. Und doch: eine Geschichte von fast gewalttätiger Wucht.

Karsten Schiffler, ein junger Regisseur mit schon beachtlichen Erfolgen (Einladung zum Berliner Theatertreffen), verbindet für seine Inszenierung im Kammertheater der Städtischen Bühnen die einzelnen Fäden des fragmentarisch anmutenden Textmaterials zu einem dichten Gewebe, das die Projektionsfläche abgibt für ein Spiegelbild menschlicher Sehnsüchte und Abgründe. Schiffler und seinem inspirierten Ensemble gelingt es dabei, jede Schicht des bis zum lakonischen verdichteten Textes in sorgfältig erarbeiteten Bildern aufzuschlüsseln. Wo die Vorlage mit abrupten, vordergründig sprunghaft wirkenden Entwicklungen arbeitet, entfaltet Schiffler durch exakte szenische Arbeit innere Folgerichtigkeit.

 

Die Erzählweise bleibt dabei elliptisch. Die Idee der Autorin, jede Szene mit einer fotografischen Momentaufnahme enden zu lassen, führt Karsten Schiffler weiter. In gelbes Licht getauchte Standbilder zwischen den Episoden erzählen suggestiv vom Fortgang der Dinge, raffen die Zeit, bis wieder der Moment für gründliches Einhaken gekommen scheint. Dieser kleine Trick schafft den dramaturgischen Raum, um in jeder einzelnen Szene die Karten neu zu mischen und die Spielregeln anders zu formulieren. Ein Verwirrspiel, das die Figuren überfordert, zum Opfer ihres eigenen Handelns werden läßt. Mae (Brigitte Beyeler) gerät bei dem Versuch, ihr Leben neu zu ordnen, sich von Lloyd (Dimitrios Tellis) zu trennen und bei Henry (Helmut Grieser) emotionale Erfüllung zu suchen, immer tiefer in Abhängigkeiten. Statt eines Klotzes am Bein hat sie schließlich zwei. Lloyd, der sich anfangs in seiner fast animalischen Tumbheit gefällt, versucht zu spät den veränderten Bedürfnissen von Mae gerecht zu werden. Und Henry, als großer Blender in den geschlossenen Kosmos eingedrungen, wird von seiner eigenen Kläglichkeit eingeholt, als er gerade die Fäden in der Hand zu halten glaubt.
Letztlich variieren all die kurzen, prägnanten Szenen ein einziges Thema: Die Menschen können sich noch so sehr festkrallen, abstoßen, lieben oder zerfleischen. Letztlich bleibt jeder ein Gefangener seiner selbst.

dam