Freiburger Theater

Der Orchesterdiener

(Ein Bewerbungsschreiben)

Von Hermann Burger


August Schramm ist taub. Sein musikalisches Analphabetentum hindert ihn jedoch nicht, sich der Muse fronbar machen zu wollen. Und die Gelegenheit bietet sich: Den mit dem absoluten Gehör gestraften Orchesterdiener der Städtischen Philharmonie hat während einer misslungenen Interpretation der Schottischen Symphonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy der Schlag getroffen. Jetzt gilt es nur noch, dem hochverehrten Herrn Generalmusikdirektor plausibel zu machen, dass die Kandidatur des tauben August die einzig erwägenswerte sei.

 

Premiere am 7. Mai 2000 in der Kamera


Der Orchesterdiener: Thomas Hinrich

Regie: Karsten Schiffler
Bühne und Kostüme: Julia Hansen
Musik: Martin Magestro
Dramaturgie: Christine Wyss



9. Mai 2000

 

 

Eine kleine Kammertheatersensation in Freiburg:

Thomas Hinrich spielt Hermann Burgers "Orchesterdiener" in Karsten Schifflers Kamera-Inszenierung

Maestros Gegenstück im Nachtschoß von Frau Musica

Es gilt, einen Beruf zu entdecken. Nein, eine Berufung: Orchesterdiener sein, Lakai der Laute, Handlanger unter Meisterschülern, Schattendirigent im Bühnenhinterraum, der Kehrbesen der Kunst. Es gilt, ein Schicksal zu ertragen. Das Schicksal des August Schramm, der gern Orchesterdiener wäre anstelle des Orchesterdieners, der sich nicht blind, nein, taub bewirbt um die Nachfolge des verstorbenen "Ambrosiahallen-Domestiken". Und es gilt, einen Autor (wieder) zu entdecken, der auf derlei schräge Vögel abonniert war: Hermann Burger. Dass die Rollenprosa des 1989 aus dem Leben geschiedenen Schweizer Autors auch auf der Bühne funktioniert, haben schon einige Regisseure bewiesen. Nun - und man darf es bei dieser kleinen Kammertheatersensation in der Freiburger Kamera vorwegnehmen - auch Karsten Schiffler.

Burgers Protagonisten bevölkern die "Kehrseite der Kunst" - oder irgendeinen anderen Kerker. Jedenfalls sind sie auf meist unerklärliche Weise dort lebendig begraben, wo ihnen die Zugluft des Nihilismus die Nackenhaare sträubt. Nicht umsonst steht in Schramms Zimmer das Fenster sperrangelweit offen, atmet es die Schwärze der Nacht. Ein Fernrohr ist die einzige Verbindung zur Außenwelt. Von hier aus glotzt der Orchesterdiener in spe den Sinfonikern auf die Saiten, wenn sie gegenüber im Konzertsaal zugange sind. Schramm ist der wunderbaren Welt der Musik so nah und doch so fern.

Julia Hansen hat der Kamera einen kitschigen Guckkasten verpasst. Wenn der rote Sammet zur Seite schwingt, gibt er den Blick frei auf einen Tisch, auf Stühle, Stehpult, stapelweise Altpapier, ein schiefes Bild an der Rückwand. Sobald der taube August sein karges Reich betritt, sterben die Geräusche. Die Uhr tickt plötzlich lautlos, die Vögel - soeben haben sie noch gezwitschert - sind verstummt. Schramm jedoch scheint guter Dinge. Er feiert den Abschluss seines Bewerbungsschreibens an die städtische Philharmonie. Er deckt ein, arrangiert Butterdose, Blumenstrauß, Serviette und Besteck, steckt Cocktailspießchen. Unmissverständlich die Signale: Der Mann ist krankhaft penibel.

Und dann das. Schon das erste Wort bleibt ihm im Hals stecken. Macht nichts, Schramm, das erste Wort ist immer das schwerste. Zumal es "Ich" heißt. Wie viel leichter ist es doch, das Subjekt über Umwege einzukesseln. Über Vorzüge und Macken seines Vorgängers zu dozieren, dessen absolutes Gehör als gesundheitsschädlich zu geißeln. Sich hineinzusteigern ins Enzyklopädische, bis der akkurate Scheitel verrutscht. Und spätestens, wenn August Schramm Flötisten und Cellisten die Sekundärbehaarung abspricht, ahnt man: Mit dem stimmt was nicht.

Thomas Hinrich in der Titelrolle macht das äußerst geschickt. Er lässt den Wahnsinn wachsen, behutsam. Zunächst spricht er nur beiläufig. Solange Schramm sein eigener Butler ist, geht er auf vor lauter Servilität. Dann ergreift das Wort Besitz vom Körper. Die Hände ringen um Fassung, ratlos, vergebens. Auch sie müssen sich der Macht der Rhetorik unterwerfen, die wie ein "neuralgisches Gewitter" hereinbricht. Kommt Schramm in Fahrt, türmt er Konditionalsätze aufeinander, schweift ab, spickt seinen Monolog mit verbalen Kakophonien, von denen "Ambrosiahallensymphonieklangfarbenkolorit" nur die längste, bei weitem nicht die unsäglichste ist.

Eine bewundernswerte Leistung: Hinrich bewältigt Burgers Satzknäuel nicht bloß rein technisch. Er balanciert die ironischen Manierismen pointensicher am Abgrund entlang. Wenn er sich der Leere mitteilt, scheint er auf du und du mit seinen drei Wänden. Und wenn ihn eine Pose elektrifiziert, verwandelt er sich tatsächlich für Sekunden in "des Maestros Gegenstück". Dann aalt er sich mephistophelisch auf dem "Nachtschoß" von Frau Musica.

Am stärksten wirken die Momente, in denen sich Schramm die angebliche Sabotierlust jedes Orchesterdieners kurz vor einem Konzert zu eigen macht. Da lässt Hinrich die devote Dämonie eines Uriah Heep auferstehen, da zwingt ihn ein tonloses Koboldlachen auf die Knie. Und man weiß nie: Schramm, dem Er-sticken nahe - lacht er oder leidet er? Schließlich ist sein Gehörschaden ein innerster, seine Euphorie eine verzweifelte, sein Untalent absolut. Dafür "kontragenial".

Stephan Reuter -

 

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Zeitung zum Abend, 10.05.2000

Eine groteske Schizo-Sinfonie

Er Ist ein Irrer. Aber nicht nur ein armer. Ja, man wünscht dem "tauben" August Schramm die Stelle des Orchesterdieners, wenn der Besessene heimlich unverschämt sein Bewerbungsschreiben im eigenen Zimmerchen inszeniert. Schon allein deshalb, weil er zwischen Größenwahn und Unterwürfigkeit nie das Maß findet. Sich krümmt vor lachen, um daran fast zu ersticken, und dann wieder verzweifelt innehält, wenn mal wieder die Realität an der Schädeldecke kitzelt. Dem Generalmusikdirektor würde Hören und Sehen vergehen angesichts des virtuosen Autisten, der in Satzungetümen schwelgt wie ein ekstatisierter Hobbydirigent. Regisseur Karsten Schiffler verwandelte Hermann Burgers Prosa-Monolog "Der Orchesterdiener" in eine opulent-groteske Schizo-Sinphonie, Thomas Hinrich als Schramm trifft jede Note.


Freizeit und Kultur, Freiburg - Juni 2000

Ein Fest der Sprache

Karsten Schiffler inszeniert "Der Orchesterdiener" von Hermann Burger in der Freiburger Kamera

Zu Beginn ertönt symphonische Musik. Golden umrahmt, mit Engeln und Geigen ausstaffiert, hat Julia Hansen in der Freiburger Kamera eine Guckkastenbühne installiert. Als sich der Vorhang öffnet, fällt der Blick auf ein Zimmer. Es ist Schramms Zimmer. Im Hintergrund stapeln sich Zeitungen. Ein mächtiges Portrait steht schief darüber. An der linken Wand hängt eine Zeitungsseite mit Todesanzeigen. Durch das weitgeöffnete Fenster, vor dem ein Fernrohr aufgebaut ist, zwitschern aus der Dunkelheit Vogelstimmen. Im Hintergrund tickt eine Pendeluhr.

Als sich die Tür öffnet und Schramm (Thomas Hinrich) das Zimmer betritt, verstummen alle Geräusche. Akkurat deckt dieser den Tisch zum Abendessen und beginnt einen monströsen Monolog: "Ich, ja ich, Herr Generalmusikdirektor, bin wenn es nach meiner Wenigkeit ginge, bräuchten sie gar keine weiteren Bewerbungen mehr, die ja nur Störkandidaturen sein können, abzuwarten zweifelsohne der richtige, ohne Zweifel der seit langem gesuchte Mann für den vakanten, um nicht zu sagen verwaisten, nach dem Tod des legendären Urfer recht eigentlich verwaisten Posten eines Orchesterdieners bei der städtischen Philharmonie." Schramm, das wird im weiteren Verlauf des Stücks klar, ist taub. Trotzdem und gerade deshalb verfolgt er obsessiv das Ziel, sich für die Stelle bei den Symphonikern zu empfehlen.

"Ein Bewerbungsschreiben" lautet dementsprechend der Untertitel von Hermann Burgers gewaltigem Prosamonolog "Der Orchesterdiener", den Karsten Schiffler in der Freiburger Kamera in Szene gesetzt hat. Thomas Hinrich spielt und verkörpert Schramms grotesken Wahn mit einer sprachlichen, gestischen und mimischen Intensität, dass einem angst und Bange werden kann. Gefangen in einer Welt der absoluten Stille, spricht er umso besessener, trägt mal durchs Fernrohr aufs Konzerthaus blickend, mal am Stehpult dozierend, in furiosen sprachlichen Variationen sein hoffnungsloses Unterfangen vor. Bravourös türmt Hinrich gewaltige Sätze aufeinander, um sie kurz darauf verzweifelt wieder zusammenstürzen zu lassen. Sein Leiden bricht sich in irrem Lachen, Größenwahn und Unterwürfigkeit gehen Hand in Hand. Minutenlang mündet die leidenschaftliche Verzweiflung gegen Ende in wortlosem Gestammel. Burgers sprachgewaltige Groteske findet in Hinrichs Schramm ihre kongeniale Verkörperung. Ein Fest der Sprache und eine begnadete Solovorstellung von Thomas Hinrich.

 

Dirk Rohde


Augsburger Allgemeine - Dezember 2005

Grandioser Wahnsinn im Hoffmannkeller; Thomas Hinrich überzeugte voll in seinem Solostück "Der Orchesterdiener"

Dergestalt dass...
Thomas Hinrich ist "Der Orchesterdiener" im Hoffmannkeller

(sysch). "Mann, der hat ja Nerven" ist der Gedanke nach den ersten Minuten von "Der Orchesterdiener", dem Ein-Personen-Stück von Hermann Burger. Empfohlen sei der Besuch dieser Aufführung dem amtierenden GMD, den Augsburger Philharmonikern, Theater-Insidern und auch -freunden, die sich über alle Maßen amüsieren wollen.

 

Thomas Hinrich, neu im Schauspielensemble, ist der taube Orchesterdiener August Schramm. Er "will sich der Muse fronbar machen", weil den bisherigen Orchesterdiener der Schlag getroffen hat, und zwar nicht wegen Missachtung oder Überarbeitung, sondern, weil Mendelssohns "Schottische Symphonie" so gänzlich danebenging.
Grandios ist der Wahn des Bewerbers, grandios ist das Spiel von Hinrich, der ab und an durchs Fernrohr in den Konzertsaal blickt und nur ein Ziel kennt: Orchesterdiener sein, Musikern die Stühle hinrücken, Noten auflegen, das Licht an- und ausknipsen und den Generalmusikdirektor auffangen, sollte dieser den Applaus nicht verkraften. So grotesk das Spiel unter der Regie von Karsten Schiffler sein mag, Hinrich reißt alle vom Hocker, liefert das Psychogramm eines Wahnsinnigen, der jede Realität leugnet und im Vivace hinausschreit, warum nur er der Orchesterdiener sein kann.
Der Zuhörer wird bis zum Äußersten gereizt durch Thomas Hinrichs Gestik, Mimik und Bühnenpräsenz sowie durch eine Sprach-Symphonie, die fernab jeden Mainstreams an Kleist'sche Sätze - eingeleitet durch ein "dergestalt, das..." - erinnern sowie auch an Zitatabwandlungen wie "Dem Blech geben, was des Bleches ist". Die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, als Gehörloser Gehör zu finden, steigert sich bis zum Finalen Furioso. Thomas Hinrich spielt dafür die gesamte Klaviatur seines schauspielerischen Könnens rauf und runter, ist fertig mit sich und der Welt des Orchesterdieners. Nicht fertig war das Publikum, das mit entsprechendem Beifall eine großartige Leistung belohnt hat.