Freiburger Theater

Die Wildente

(Vildanden)

Von Henrik Ibsen

Deutsch von Karsten Schiffler


Henrik Ibsen an seinen Verleger Frederik Hegel:

Gossensaß, 2. September
1884 Anliegend schicke ich Ihnen das Manuskript meines neuen Schauspiels Die Wildente, das mich in den vergangenen vier Monaten täglich beschäftigt hat und von dem ich mich nun nicht ohne ein gewisses Gefühl der Leere trennen muß. Trotz ihrer vielfachen Gebrechen sind die Menschen in diesem Stück mir durch den langen täglichen Umgang lieb geworden, aber ich hoffe, sie werden auch in der großen Leserwelt und nicht zum wenigsten unter den Schauspielern gute, wohlwollende Freunde finden, denn sie bieten ausnahmslos dankbare Aufgaben. Doch wird weder das Studium noch die Darstellung dieser Menschen leicht fallen. ...

Dieses neue Stück nimmt innerhalb meiner dramatischen Produktion in gewissem Sinne einen Platz für sich ein, denn der Aufbau weicht in mancher Hinsicht von meinen früheren ab. Die Kritiker werden hoffentlich jene Punkte finden. Jedenfalls werden sie etliches finden, worüber man streiten und das man [anders] auslegen kann. Auch glaube ich, daß Die Wildente vielleicht einige unserer jüngsten Dramatiker auf neue Wege locken kann - und das wäre zu wünschen.

 

Premiere am 19. März 1999 im Schauspielhaus Kurbel


Großhändler Werle: Helmut Grieser
Gregers Werle: Wolf List
Der alte Ekdal: Günter Knecht
Hjalmar Ekdal: Ullo von Peinen
Gina Ekdal: Isabel Martinez
Hedvig: Annedore Bauer
Frau Sörby: Anja Klein
Relling: Ueli Schweizer
Molvik: Georg Blumreiter
Gråberg: Klaus Irion

 

 

Regie: Karsten Schiffler
Bühne: Daniel Roskamp
Kostüme: Bettina Ginsberg
Musik: Achim Vogel
Dramaturgie: Katrin Reiling, Hans J: Ammann



22. März 1999

Täuschung und Liebe

"Die Wildente" von Henrik Ibsen im Freiburger Schauspielhaus Kurbel

"Und wenn die ganze Welt zugrunde ginge, ich krieche nicht zu Kreuze", entrüstet sich Stockmann, der idealistische Held in Ibsens Schauspiel "Der Volksfeind". Unerbittlich führt er in dem 1882 veröffentlichten Theaterstück den Kampf gegen die egoistische und verblendete Menschheit.
Zwei Jahre später erscheint "Die Wildente", und da stellt der norwegische Dramatiker die Frage andersherum: Weiches Unheil kann ein Idealist stiften? Kann es sein, daß er mehr Lebensglück vernichtet als fördert? lbsen geht in der "Wildente" auch mit seiner eigenen Rigorosität ins Gericht und entwickelt so etwas wie Humor, teilnehmende Sympathie für das KleineLeute-Leben: "Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, dann nehmen Sie sein Glück gleich mit", erklärt Doktor Relling (Ueli Schweizer), ein versoffener Arzt mit Menschenkenntnis, dem jungen Weltverbesserer Gregers Werle (Wolf List).
Dieser hat beschlossen, als große menschenfreundliche Tat seinem Freund, dem nichtsnutzigen Fotografen Hjalmar Ekdal (überzeugend: Ullo von Peinen), die Augen für die Wahrheit über die eigene Person zu öffnen: daß Hjalmar in der Lüge dahinlebt, daß seine Familie 'nicht von seiner Arbeit lebt, 'sondern von den Zuwendungen eines `anderen. Der reiche Großhändler Werle (Helmut Grieser) hat Hjalmars Vater, seinem früheren Partner, einst übel mitgespielt. Jetzt bezahlt er ihn gut für überflüssige Schreibarbeiten. Und er hat seine heimliche ehemalige Geliebte mit dem ahnungslosen Hjalmar verheiratet Auch Hedvig, die Tochter, so stellt sich heraus, ist gar nicht Hjalmars Kind. Nach all diesen Offenbarungen erwartet der junge, unerlaubt dumme Werle ("Ich will das Fundament für eine wahre Ehe legen") von - Hjalmar menschliche Größe, Verzeihen und einen Neuanfang in der Wahrheit. Hjalmar soll sein Leben ändern, und zwar sofort. Natürlich folgt die Katastrophe.

"Niemand weiß, wie das Furchtbare sich zugetragen hat."

Karsten Schiffler hat dieses Drama im Freiburger Schauspielhaus Kurbel als Komödie inszeniert. Und er tat gut daran. Bei den Ibsenschen Männern gibt's dafür genug Stoff: männliche Grandezza und Pfaugebaren, gekränkte Eitelkeit und Mackerallüren, Großsprecherei und Tatenlosigkeit, vereint mit Schmarotzertum, Phantasterei, Alkohol und Hilflosigkeit den praktischen Dingen des Lebens gegenüber. Die unerbittliche Schärfe, die Ibsens Drama 1884 für sein Publikum haben mußte, als er dem Bürgertum wie Im Brennglas seine Schwächen vorführte und, seinen Anspruch, dem Adel gegenüber die moralisch höherstehende Klasse zu sein, als Chimäre bloßlegte, hat "Die Wildente" allerdings heute nicht mehr. Gut hundert Jahre und einige Jahrzehnte Frauenbewegung später erinnern das männliche Personal ebenso wie die aufopferungsvolle Ehefrau Gina Ekdal (Isabel Martinez) an Figuren aus der Frühzeit feministischen Aufklärungstheaters. Man erkennt lachend vieles wieder, doch mehr aus der Erinnerung.
Doch im Komödiantischen erschöpft sich die Inszenierung nicht. Den männlichen Posen und der weiblichen Selbstbeschränkung gegenüber steht das Kind Hedvig, anrührend gespielt von Annedore Bauer. In ihren Augen spiegelt sich der häusliche Kosmos, vor ihrem Glauben an den Vater und in ihrer Liebe gewinnen das Mickrige Größe, das Lächerliche Würde. Sie, und nicht Hjalmar, um den sich scheinbar alles dreht, Ist der Mittelpunkt. Denn vor ihr möchte er das Gesicht wahren, gut erscheinen.
In diese durch Täuschungen und die Liebe zur Tochter zusammengehaltene Welt fahren Gregers Enthüllungen wie eine amoklaufende Bullenherde. Das gewachsene System gegenseitiger Rücksichtnahmen wird gedankenlos niedergetrampelt, der trotz aller Schwächen liebevolle Zusammenhalt der Familie eingerissen. Ein Opfer muß her. Und Hedvig ist bereit, es zu bringen. Sie will ihr Liebstes, ihre Wildente, hingeben, um Hjalmar die Größe ihrer Gefühle zu beweisen. Und als sie das nicht kann, tötet sie sich selbst.
Ibsens zeitgebundene Gesellschaftskritik wird hier zum Trauerspiel, das die Zeiten überdauert. Denn der sehnsüchtige, vertrauensvolle Blick der Kinder auf die Erwachsenenweit begleitet jedes Heranwachsen. Regisseur Schiffler hat es - bei aller Lust am Komödiantischen - verstanden, die Hilflosigkeit des Kindes angesichts der Auflösung seiner Welt und das Heroische seines Entschlusses, alles zu geben, um das Unglück abzuwenden, anrührend darzustellen. Die Inszenierung, die auf Effekthascherei und zwanghafte Aktualisierung gänzlich verzichtet, gewinnt im Laufe des Abends zunehmend an Dichte und Intensität. Am Schluß bewegter Applaus.

 

Elisabeth Kiderlen - Badische Zeitung


ROLF - Theater - 20.3.1999

 

 

 

Molvik ist dämonisch

 

 

Die Wildente von Henrik Ibsen. Dt. von Karsten Schiffler

Die Stücke von Henrik Ibsen sind immer eine dankbare Angelegenheit für das Theater. Nur ein leichtes Klopfen, und der Staub von über hundert Jahren fällt von selbst. Die Dialoge, die Psychologie, der Spannungsbogen funktionieren heute noch wie bei der Uraufführung 1885. Am Anfang steht das Geheimnis, das verschwiegene Verbrechen aus der Vergangenheit. Damals hatte Konsul Werle seinen Kompagnon, den alten Ekdal, übers Ohr gehauen und ruiniert, dessen Schwiegertochter Gina Ekdal geschwängert, und so den ahnungslosen Fotograf und liebenswerten Taugenichts Hjalmar Ekdal neben seinem Erbe auch noch um seine Tochter Hedvig gebracht. Aus Mitleid gewährt er dem armen Greis jedoch ein Gnadenbrot und füttert die Ekdals mit überbezahlten Aufträgen durch. Diese Gemengelage hat sich im Lauf der Jahre zu einem recht stabilen, normal verlogenen Alltag ausbalanciert. Dann kommt der junge Rächer Gregers Werle, der den Mantel des Schweigens lupft und diesen kleinen Kosmos mit dem Hammer der Aufrichtigkeit zertrümmert, bis das schwächste Glied der Kette tot auf der Bühne liegt.

 

Karsten Schiffler traut dieser Dramaturgie, verstärkt ein wenig die satirischen Züge der Charaktere, feilt die Übersetzung etwas moderner - geht aber alles in allem sehr behutsam mit der Vorlage um. Ein Verfahren, das sich ausgezahlt hat. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren mit sichtlicher Spiellaune. Es macht Spaß, Ullo von Peinens Hjalmar die Register von realitätsfernem Weichei über den spinnerten Fantasten zum albernen Haustyrann ziehen zu sehen. Annedore Bauers hinreißend fifties-vierzehnjährige Hedvig hätte bei jedem "Kinder-vom-Immenhof"-Wettbewerb sofort den Ponny-Award eingeheimst. Günter Knechts Schnapsgreis Ekdal ist komisch-anrührend und Isabel Martinez gibt erstaunlich zurückhaltend der Gina glaubwürdige Bodenhaftung.

Interessant, wie Schiffler das Gegensatzpaar des rücksichtsvoll illusionslosen Realisten Relling (Ueli Schweizer) und des rücksichtslos realitätslosen Dogmatisten Gregers betont. Zwei kaputte Existenzen schließen, fast wie die faustischen Gott und Mephistopheles) eine Wette, wessen soziales Experiment das sinnigere sei: Rellings Lebenslügenmedizin oder Gregers Aufrichtigkeitsfieber. Aber das macht auch einen Schwachpunkt der Inszenierung aus. Die Psychologie der Charaktere, von deren Differenziertheit das Stück seinen besonderen Reiz zieht, beißt sich mit solchen Typisierungen. Was zu Beginn gelungen war - zur stilisierten Exposition der Handlung die Schauspieler aufzureihen und die Eröffnungsszene mit Peer-Gynt-Drum'n-Bass zu unterlegen - wird später störendes Beiwerk. Das Einfrieren der Szene zum Foto und die bisweilen merkwürdigen Einsätze der Musik wirken oft wie Fremdkörper. Dafür gibt es immer wieder Schmankerl, die für die Ausrutscher mehr als entschädigen. So gelingt Georg Blumreiter das Kunststück, sich mit einem fast wortlosen Kurzauftritt als Molvik zu einem Highlight des Abends zu spielen. Dessen Porträt (Fotos: Matthias Kolodziej) und die der anderen Akteure lohnen im übrigen diesmal den Kauf des Programmhefts.

 

Zum Schluß bleibt festzustellen, daß beim Schauspiel mit der Wildente und dem Hamlet endlich der ersehnte Aufwind zu spüren ist. Hoffentlich nicht nur ein Frühlingshauch, der im Herbst wieder verhungert. Dem Publikum wär's zu gönnen, das auch an diesem Abend erfreut applaudierte.
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