Schauspiel Leipzig

Familiengeschichten. Belgrad

Von Biljana Srbljanovic

Aus dem serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann


"Alle Helden dieses Stücks sind Kinder. Dennoch altem sie nach Bedarf oder werden jünger und ändern gelegentlich auch ihr Geschlecht. Das sollte niemanden wundern. Die Schauspieler sind hingegen keine Kinder. Sie sind Erwachsene, die im Stück Kinder darstellen, die wiederum Erwachsene spielen. Auch das sollte niemanden wundem. Es gibt genügend andere Dinge, über die man sich wundern kann.

Ein Kinderspielplatz in einer Vorstadtsiedlung von Belgrad. Heruntergekommene Architektur aus den Zeiten des sozialistischen Realismus, löchriger Asphalt, demolierte Basketballkörbe, zerfurchte Rasenfläche zwischen zwei Wohnblocks. Vernachlässigte, mit inhaltslosen Grafittis übersäte Fassaden. Ein Container, altes Gerümpel und allerlei Hausmüll stehen nicht für den sozialen Status, sondern für die allgemeine Lage der Mittelklasse in der postkommunistischen Zeit. Die Helden dieses Stücks sind keine Armen, weder was ihren Charakter noch was ihr alltägliches Leben betrifft. Sie sind Bürger eines zugrunde gerichteten Staates."

 

 

Premiere am 2. Oktober 1999 in der Neuen Szene


Nadezda, ein Kind mit Tic: Susanne Buchenberger
Vojin, der Vater, Milenas Bruder: Andreas Rehschuh
Milena, die Mutter, Vojins Schwester: Friderikke-Maria Weber
Andrija, der Sohn, bei Bedarf auch die Tochter: Oliver Kraushaar

Regie: Karsten Schiffler
Bühne: Daniel Roskamp
Kostüme: Bettina Ginsberg, Stefanie Schütz
Musik: Martin Magestro
Dramaturgie: Carmen Wolfram



Leipzigs Neue, 15.10.99

Schlachtfeld Familientisch

Der große und der kleine Krieg - so könnte das Thema der "Familiengeschichten. Belgrad" umschrieben werden, das Karsten Schiffler in der Neuen Szene inszenierte. Die Autorin des Stückes, Biljana Srbljanovic, 1970 in Belgrad geboren, läßt darin Kinder auftreten, die ihre Eltern nachspielen Gewalttätige, intolerante, kleinkarierte, spießige Eltern. Handlungsort ist Belgrad nach dem Bosnienkrieg, aber vor der NATO-Aggression. Zwei parallele Handlungsstränge, die sich gelegentlich kreuzen, durchziehen das Stück. Der eine: Der Krieg in der Familie. Der alltägliche familiäre Terror erzeugt auf beiden Seiten, bei den Eltern wie bei den Kindern, Gewalt und Gegengewalt. Eine Spirale ohne Ende. Der andere :Der Krieg außerhalb der Familie. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien tobt, Ängste und traumatische Ahnungen quälen die Kinder/ Eltern.

Biljana Srbljanovic versucht einen bestimmten Aspekt von Krieg und seinen Ursachen herauszuarbeiten, der mir vom gedanklichen Ansatz her gerechtfertigt scheint. Die Familie, jene kleinste Zelle der Gesellschaft kann als Spiegel der Gesellschaft, gesehen werden, sofern die Hauptursachen des Krieges, wie imperialistische Profitgier und Nationalismus, nicht negiert werden. Folgt man der Chaos-Theorie, nach der eine Selbstähnlichkeit von Strukturen und Prozessen besteht, ist die Ableitung von der kleinsten .soziologischen Einheit (Familie) auf die nächst größere (Gesellschaft) gut nachvollziehbar. Mit der bitteren Konsequenz, daß dieses Stück auch in Berlin, München oder Oberursel spielen könnte.

Die vier Akteure des Stückes sehen sich vor die Schwierigkeit gestellt, Kinder darzustellen, die wiederum Erwachsene spielen. Durchgängig lösen sie diese Aufgabe mit Bravour. So spielt Susanne Buchenberger mit starkem mimischen Ausdruck das verstörte Waisenmädchen Nadezda, die sich für einen Hund hält und sich erniedrigen läßt. Kindlich naiv und bizarr brutal verkörpert Friederikke-Maria Weber die Mutter/das Kind Milena. Andreas Rehschuh als Vater/ Bruder Vojin gelingt es, einen spießbürgerlichen und gnadenlosen Vater lebendig agieren zu lassen. Daß die Autorin ausgerechnet diese negative Figur die Wahrheit über die Rolle, die Genscher und Clinton beim Zerfall Jugoslawiens gespielt haben, aussprechen läßt, machen diese Aussage leider für den Zuschauer unglaubhaft. Oliver Kraushaar als Tochter/ Sohn Andrija, füllt seine Rolle mit menschlichen Zügen aus, einerseits fast warmherzig, andererseits aber auch gewalttätig und aufbrausend.

Karsten Schiffler, der zum ersten Mal in Leipzig inszeniert, gelingt es, die zwei Ebenen des Stückes - der alltägliche Terror in den Familien und die Brutalität des Krieges - plastisch werden zu lassen. Das beginnt bereits mit der ersten Szene und durchzieht das ganze Stück. Bei mir löste es ein Gefühl des Schreckens und Grauens aus; das mich noch lange nach Vorstellungsende nicht losließ.

 

BERND SELLIN 


5.Oktober 1999

 

 

Die Hoffnung ein zerlumpter Hofhund
"Familiengeschichten. Belgrad" in der Neuen Szene
Von Valeria Heintges

Wie oft soll ich es noch wiederholen - Kopf in den Sand! Arsch an die Wand! Der Mensch ist des Menschen Feind!" Und damit der Sohn auch gleich weiß, was das Gebrülle des Vaters zu bedeuten hat, wird er erstmal verprügelt und von der Mutter angeschrieen. Solange, bis es ihm reicht. Dann bringt er seine Eltern um. Insgesamt sieben Mal. Sie werden erschossen, erdrosselt, verbrannt und zu Tode schockiert.

Familiengeschichten. Belgrad" hat Biljana Srbljanovic ihr Stück genannt, das am Samstag in der Neuen Szene Leipzig unter Karsten Schifflers Regie Premiere hatte. Brutal hat die in Belgrad lebende 29-jährige Serbin ihre verängstigten, geschundenen, aber auch feigen Landsleute und damit ein gnadenloses Bild der serbischen Realität gezeichnet. Ein Stück, das durch einen dramaturgischen Trick an der platten Satire vorbei schrammt: Erwachsene Schauspieler spielen Kinder, die spielen, sie wären erwachsen und eine große Familie.

Horrorvision in Gedanken, Worten und Taten

Zwischen einer Kletter-Rakete, Mülleimern, einem Baugerüst und einem mit Hartbeton umgebenen Sandkasten spielen sie ihre Zukunft: eine Horror-Vision, ein ewiges Gemetzel, in Gedanken, Worten und Taten. Kinder reden Erwachsenen-Sprache voller grausamer, gedankenloser Phrasen und Totschlagargumente - hier ist nicht einmal im Spiel die Erziehung zur selbstdenkenden, verantwortungsbewussten Persönlichkeit erwünscht, hier ist nur Gehorsam, Drill und Schweigen. Jeder teilt nach unten aus, der Schwächste ist immer noch gut genug für einen Tritt in den Magen. Und die Schwächste, das ist Nadezda, "ein Kind mit Tic", wie es in der Regieanweisung heißt. Nadezda wird gehalten wie ein Vieh, gezerrt an der Kette, die Hoffnung (Deutsch für Nadezda) ein jämmerlicher zerlumpter, getretener Hofhund. Am Schluss wirft Nadezda eine Bombe. Aber nicht im Kinderspiel. In echt.

Susanne Buchenberger ist Nadezda, fahrig, zittrig kriecht sie in sich selbst zurück, hungernd nach Speise und nach Zuwendung. Oliver Kraushaar ist Andrija, "der Sohn, nach Bedarf auch die Tochter". Ein großes Kind, das seinen Platz in der Welt noch sucht, immer wieder Widerstand wagt, aber zunehmend ungeduldig und genervt, schlägt er schließlich zu. Kraushaar hat - wie Andreas Rehschuh, der den Vater Vojin gibt - wenig Nuancen in seinem Spiel, gewinnt seiner Rolle zu wenig Facetten ab, als dass sie mehrschichtig werden könnte.

Die schauspielerische Glanzleistung bietet ohne Zweifel Friderikke-Maria Weber als Mutter Milena. Sie spielt ihre Mutter so, wie ein Kind denkt, dass (Haus-)Frauen zu sein haben: Sie schwingt ihre Hüften von einer Seite zur andern, rührt voller Elan in ihren Töpfen, beugt sich eifrig über ihre Sandkastenkuchen, betuddelt liebevoll ihren Mann, lässt sich bereitwillig von ihm schlagen, um ihn trotzdem immer wieder gegen den Sohn zu verteidigen. Mit feiner Ironie lässt Weber ihre Reden doppeldeutig werden, macht die Mutter zu einem Rätsel, das weiter über den serbischen Spezialfall hinausgeht. Freundlicher Beifall zur Premiere.

 

Sächsische Zeitung


Fritz, 11.99

Grausame Eltern-Kind-Spiele

Das sind grausame Spiele, die die serbische Autorin Biljana Srbljanovic dem Publikum in "Familiengeschichten. Belgrad" vorsetzt. Die Bühne (Daniel Roskamp) mit Spielplatz und Mauer samt ihrer Helden ist zu Beginn jeder neuen Szene in leichenhaft graues Licht getaucht. Da spielen Erwachsene Kinder, die wiederum Erwachsene spielen. Sie zeigen, was sie gesehen und erlebt haben: Gewalt und Brutalität in der Familie, nur selten Beistand, Trauer oder gar Zärtlichkeit.

Der rohe Ton beherrscht mit Schreien und Schlägen die Bühne. Ein Mensch wird wie ein Hund an der Kette gehalten. Beängstigend, diese Sandkasten-Familien, in denen Sohn, Frau, Schwester oder Bruder zum Feind werden. Den vier Darstellern Susanne Buchenberger, Andreas Rehschuh, Friderikke-Maria Weber und Oliver Kraushaar wird in der Inszenierung von Karsten Schiffler Hartgesottenheit abverlangt.

 

-stars