Schauspielhaus Bochum

Brennende Finsternis

(En la ardiente oscuridad)

 

Von Antonio Buero-Vallejo

Deutsch von Dieter Welke


Elisa: Nicole Jenhs
Andrés: Roman Knižka
Carlos: Thomas Hilmar Loibl
Juana: Elina Benecke
Miguelin: Folker Klose/F.Barnick
Esperanza: Silvia Rhode
Ignacio: Alexander Simon
Don Pablo: Rainer Hauer
Ignacios Vater: Manfred Böll
Doña Pepita: Hildburg Schmidt

Regie: Karsten Schiffler
Bühne: Daniel Roskamp
Kostüme: Katharina Weissenborn
Dramaturgie: Dieter Welke



Von Antonio Buero-Vallejo - Deutsch von Dieter Welke

 

Ya la sombra es el nido cerrado, incandescente,
la visible ceguera puesta sobre quien ama;
ya provoca el abrazo cerrado, ciegamente,
ya recoge en sus cuevas cuanto la luz derrama.

Und das Dunkel birgt verschlossene Glut
Sichtbare Blindheit, die die Liebenden befängt
Es schließt in seine Arme, blind,
Und fängt in seinen Höhlen, was das Licht verströmt.
Miguel Hernández

 

Premiere am 8. Januar 1994, Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele



Kritiken


Buero-Vallejos Stück über Blinde, mit Schauspielschülern vorzüglich dargeboten
Von Ulrich Schreiber

 

BOCHUM. Wenn Menschen sich in einer lebhaften Gesprächsrunde nicht anschauen, sind sie unhöflich. Aber die Handvoll junger Leute - im Leben Eleven der Bochumer Schauspielschule, auf der Bühne der städtischen Kammerspiele Studenten eines spanischen Lehrinstituts - zeichnen sich durch ungewöhnliche Höflichkeit aus. Ihre Wohlmaniertheit wird vom Schulleiter kurz vor Beginn der feierlichen Semestereröffnung sogar ausdrücklich mit der Erfüllung des ihnen zugebilligten Anspruchs auf Musik belohnt.
Nichts jugendlich Aufmotzendes bekommen sie und wir nach dem Wunsch des Autors im strahlenden Licht eines iberischen Sommertages zu hören, sondern den Schmuse-Beethoven aus dem Kopfsatz der Mondscheinsonate. Die Musikeinspielung, die Antonio Buero-Vallejo für sein schon 1946 geschriebenes und 1950 in Madrid uraufgeführtes Erstlingsdrama Brennende Finsternis verlangt, hat ihre Doppelbödigkeit. Denn was die Studenten da als akustischen Abglanz zu hören bekommen, werden sie in der Realität nie sehen. Mondschein als sinnliche Erfahrung bleibt ihnen verwehrt: sie sind alle blind.
Aber sie habe erstaunlich gut den Umgang mit dem sublimierten Wahrnehmungsverlust gelernt. Die Feinheit ihres Gehörsinns im Zeitalter von Rock und Heavy-Metal entspricht ihren geradezu zärtlich altmodischen Umgangsformen. Sind Blinde oder Nichtsehende, wie es in ihrem Comment heißt, die besseren Menschen - 1891 hatte Maurice Maeterlinck mit seinem Dramolett Die Blinden die Hochphase des szenischen Symbolismus eingeleitet: Eine gruppendynamische Studie kollektiver Ichverlorenheit von dem Augenblick an, als der sehende Anführer stirbt. Auch bei Buero-Vallejo gibt es, neben einer Randfigur zu Beginn, nur einen sehenden Menschen in der Gruppe der Blinden.

 

Die Augen verschließen

 

Es ist Doña Pepita (Hildburg Schmidt), die Frau des ebenfalls blinden Institutsleiters. Sie wird am Ende ihre Augen freiwillig vor der großen Lebenslüge schließen, die der Blindenlehranstalt den pädagogischen Ruf und damit die wirtschaftliche Zukunft sichert. Denn sie hat im Mondschein als einzige den Mord beobachtet, den Carlos (Thomas Hilmar Loibl) an Ignacio (Alexander Simon) beging und in Vorwegnahme der allgemeinen Sprachregelung als Unfall ausgibt.
Wie es zu diesem Mord in einer Herbstnacht kommt, ist von dem 1916 in Guadalajara geborenen, im Bürgerkrieg auf der republikanischen Seite kämpfenden und im frankistischen Spanien mit dem Gefängnis vertraut gemachten Antonio Buero-Vallejo auf spannende Weise erzählt worden.
Ignacio gerät in einen Kreis von acht (in den Bochumer Kammerspielen sechs) angepaßten Studenten, die im Sinne des Institutsleiters den Umgang mit ihrem Mangel zur Tugend umzumünzen gelernt haben und sich manchmal in ihrer Blindheit wirklich als die besseren Menschen vorkommen. Er beharrt im Gegensatz zu den anderen auf seinen Blindenstock und verwirft mit dem Verzicht auf die akustisch-haptische Aneignung seines engen Lebensumfeldes jede pädagogische Sublimierung seines Leidens. Er ist nicht bereit, die Lebenslüge von der Normalität der Nichtsehenden zu ertragen: Er, will aus der brennenden Finsternis der Blindheit ausbrechen, das Licht sinnlich erfahren und am Schmerz dieser Unerfüllbarkeit leiden. Die Leidensgewißheit dieser Sehnsucht bringt das labile Gleichgewicht des Instituts und die angelernte Selbstsicherheit seiner Insassen ins Wanken. Mit der allgemeinen Disziplin schwindet die Leistungsbereitschaft: Nachlässig-, ja Aufsässigkeit macht sich breit. Auch in den Zwischenmenschlichen Beziehungen knistert es gefährlich. Daß Ignacio im extravertierten Miguelin (Folker Klose) einen Gefolgsmann findet, macht dessen Freundin Elisa (Nicole Jenhs) unglücklich; zudem entfremdet Ignacio die zartbesaitete Juana (Elina Benecke) ihrem empfindsamen Freund Carlos, der darob mehr noch als die Institutsleiter zu seinem Gegenspieler wird.

 

Zu Beginn hatte Juana den gleich zur Desertion bereiten Neuankömmling gebeten; im Institut zu bleiben; kurz vor Ende versucht der von ihr verlassene Carlos vergeblich, Ignacio zur Abreise zu bewegen. Da entschließt er sich zur gewaltsamen Lösung des Problems. Und zwingt Doña Pepita, ihre Mitwisserschaft zu verdrängen.

 

Wie Marionetten finden die Paare angesichts des toten Störenfrieds zur alten Ordnung zurück - nur im unerkannt bleibenden Mörder Carlos lebt der Drang des Ermordeten, aus der brennenden Finsternis auszubrechen, fort. Aber er wird ihn nie nach außen kehren und dereinst möglicherweise, wie bereits gegenüber der Doña Pepita bewiesen, diktatorisch die Segnungen der Blindheit zur Staatsreligion erheben. Wie in seinem Erfolgsstück von 1949 Geschichte eines Treppenhauses fasziniert hier Buero-Vallejos Realismus, der gesamtgesellschaftliche Befindlichkeiten durchscheinen läßt. Ist es in der Historia de una escalera der fatalistische Kreis und Leerlauf in der um ihre Zukunftsfähigkeit betrogenen Generationen in einem spanischen Mietshaus, so liefert En la ardiente oscuridad dazu das äußerst positive Pendant: das nur durch eine gewaltige Lebenslüge - den Selbstbetrug über eine verlorengegangene Wahrnehmungsfähigkeit - erzielte Funktionieren einer Gesellschaft in Law and Order.

 

Verfall der Ordnung

 

Diese bittere Analyse wird in Bochum ganz aus dem Text entwickelt. Die von Frank-Patrick Steckel gepflegte Tradition, die örtliche Schauspielschule arbeitspraktisch mit dem Schauspielhaus zu verbinden, feiert diesmal geradezu Triumphe. Die sieben Schauspielschüler entfalten unter der Anleitung ihres regieführenden Kollegen Karsten Schiffler in der schlichten Einheitsbühne (Daniel Roskamp) und Ausstattung (Katharina Weissenborn) eine verblüffend typgerechte Ensembleleistung.

 

Wie da aus einem konfirmandenfrommen Kindergetuschel eine Tragödie entwickelt wird, wie die Blindheit das Spiel in seinen Bewegungsabläufen prägt - zumal in Buero-Vallejos Dramaturgie des fremden Blicks: daß oft eine ungesehene Figur heimlich den Auseinandersetzungen lauscht -, wie er allmähliche Verfall der Institutsordnung sich in Winzigkeiten offenbart: das führt zu einem durch die Pausenlosigkeit in seiner Intensität noch verstärkten Theaterabend.

 

Die Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten Carlos-Loibl und Ignacio-Simon gehören zum Spannendsten, was überhaupt auf der Szene an Rhein und Ruhr derzeit zu sehen ist. Während das Theater von oben immer mehr stranguliert wird, sprudelt hier der Quell, aus dem es sich nährt: eine mutiges Signal des Widerstands. Es wurde mit einer Ovation gefeiert.
Ulrich Schreiber - Frankfurter Rundschau

 


12.1.1994

 

Der verdoppelte Voyeur
Deutsche Erstaufführung in Bochum: "Brennende Finsternis" von Antonio Buero-Vallejo

 

Die Blicke gehen aneinander vorbei. Starr richten sie sich ins Leere. Keiner wendet seinem Gesprächspartner das Gesicht zu. Im Umgang miteinander scheinen diese Menschen ständig in Gefahr, sich zu verfehlen, ihre Gesten und Gänge sind leicht verzögert. Doch. was einer anderen Theateraufführung als Mangel oder Makel anzurechnen wäre, hier ist es Ausdruck von Authentizität - das Nicht-Perfekte als Ausweis von Perfektion. Denn die Figuren auf der Bühne sind blind, und ihre Darsteller treffen diesen Umstand mit taktilem Reizempfinden und traumwandlerischer Sicherheit.

 

Die Irritation ist beträchtlich. Zunächst schien alles ganz normal. So leichtfüßig und geschmeidig bewegen sich die jungen Leute im Raum: Einzeln und paarweise haben sie sich im Rauchzimmer einer Lehranstalt für Blinde eingefunden, drei Studentinnen und drei Studenten, die adrette helle Kleider und Anzüge tragen und, wie sie sich herzen und scherzen, Selbstsicherheit und Optimismus ausstrahlen. Normalität zu simulieren, so zu tun, als fehle ihnen nichts, lautet die Lebensphilosophie, die das Institut ihnen einimpft. Die künstliche Idylle aufrechtzuerhalten fällt ihnen nicht sonderlich schwer, bis plötzlich das tastende Suchgeräusch eines Blindenstocks die Ankunft eines neuen Kommilitonen ankündigt. Danach wird nichts mehr sein, wie es war.

 

Der Autor des Stücks, in dem ein Blinder die Ordnung der Blinden in Gefahr bringt, ist in keinem der gängigen Schauspielführer zu finden. Dabei gilt Antonio Buero-Vallejo als der angesehenste und erfolgreichste Nachkriegsdramatiker Spaniens: 1916 im neukastilischen Guadalajara geboren, kämpfte er im Bürgerkrieg auf seiten der Republikaner und wurde 1939 zum Tode verurteilt. dann aber zunächst zu lebenslanger Haft und 1946 zu einer Art Hausarrest "begnadigt", aus dem er erst 1959, als er wieder einen Reisepaß bekam, entlassen wurde. Auch sein Erstling "Brennende Finsternis", 1950 in Madrid uraufgeführt, ist im Gefängnis entstanden. Der Schauplatz der Parabel aber ist Metapher für mehr: für den faschistischen Staat, für jede totalitäre Gesellschaft.

 

Die Dramaturgie folgt der Störenfriedformel: Der Novize Ignacio besteht darauf, weiter einen Stock zu benutzen und sehen zu wollen, er kann und mag sich nicht mit einer Existenz abfinden, die sich über ihre Misere hinwegtäuscht und weder Leid noch Sehnsucht kennt. Schonungslos benennt er die Lebenslüge der "Nicht-Sehenden", als die sich die Blinden beschönigend bezeichnen, und entlarvt ihre Sicherheit als Illusion. In aufbrausenden Auseinandersetzungen. und philosophischen Debatten mit Carlos, dem smarten Apologeten der "eisernen Zuversicht", formuliert Ignacio eine kompromißlose Gegenposition zur herrschenden "Fröhlichkeitsvergiftung": Sein Zweifel wirkt ansteckend, Freundschaften und Liebesbeziehungen, Ordnung und Moral des Instituts werden erschüttert.

 

Die Spitze des Kollektivs gerät in Alarmbereitschaft, die Abwehrmechanismen greifen: Der "verrückte Messias" wird als "der beunruhigendste Feind" ausgemacht, schnell besteht Einvernehmen darüber, daß er verschwinden muß. Mit gutem Zureden allein ist das nicht getan, ohne Aufsehen kann man sich des Wahrheitsfanatikers kaum entledigen. Die Lösung ist letal: Am Ende liegt Ignacio tot auf der Couch. Ob es ein Unfall war oder - wahrscheinlicher - Carlos ihn umgebracht hat, wird nicht mehr geklärt. Do a Pepita, die Frau des Direktors und einzige Sehende des Stücks, hat zwar von der Terrasse aus alles beobachtet, im Interesse des Instituts aber wird sie schweigen. Die Lebenslüge könnte weitergehen, hätte Ignacios Sehnsucht nicht auch Carlos infiziert: "Diese weit entfernten Welten sind hier, hinter dem Glas", so sinniert er schließlich am Fenster vor dem nächtlichen Sternenhimmel: "Erreichbar für unseren Blick ... wenn wir ihn hätten ..."

 

Die Deutsche Erstaufführung am Schauspielhaus Bochum, wo Studenten der Westfälischen Schauspielschule die Studenten spielen, leistet gegenüber dem Autor einen späten Akt der Wiedergutmachung. In dem Einheitsraum von Daniel Roskamp, einer milchglasverkleideten Wohnwabe von schäbiger Freundlichkeit, gelingt Karsten Schiffler ein talentversprechendes Regiedebüt: Zwischen abstraktem Modell und naturalistischem Milieu hält seine Inszenierung das von Dramaturg Dieter Welke übersetzte Stück in einer anspielungsreichen Schwebe, die es vor moralsaurer Eindeutigkeit ebenso bewahrt wie vor vager Unverbindlichkeit. Eine Versuchsanordnung wird durchgespielt, die dem Zuschauer auch klammheimliches Vergnügen bereitet. Weiß er doch als einziger, wer sich auf der Bühne verschweigt oder verkrümelt. Als doppelter Voyeur behält er immer den letzten Blick.
ANDREAS ROSSMANN - Frankfurter Allgemeine

 


10. Januar 1994

 

 

Wenn wir den Blick hätten
Bochumer Erstaufführung: Buero-Vallejos "Brennende Finsternis"
Von unserem Redaktionsmitglied Sophia Willems

 

Bochum. Ein Hochschul-Internat für "Nichtsehende" (so der verordnete Sprachgebrauch) betreibt die Erziehung Behinderter zu fröhlichen, selbstbewußten Menschen. Doch der neue Student Ignacio bringt Unheil. Er nennt den Frieden eine Lüge, das Gebrechen beim Namen und will sich "nicht fügen". Das büßt er mit dem Leben, und die Zuversicht ist wiederhergestellt.

 

Falsch. Der Tod Ignacios verändert das Leben zweier Menschen vollkommen: das seines Gegners Carlos und das der einzigen "Sehenden", Doña Pepita (Hildburg Schmidt, erlesen wandlungsfähig), der Frau und Sekretärin des Direktors Don Pablo (Rainer Hauer), der Carlos beauftragt, für Ignacios Verschwinden zu sorgen. In dieser Nacht sah Doña Pepita vom Balkon aus, wie Carlos auf dem Sportplatz Ignacio das Genick brach. Oder doch nicht? "Wie können Sie es wagen, sich auf das Zeugnis Ihrer Augen zu berufen", schreit er sie an. "Sie haben nicht gesiegt", ruft sie ihm zu - unter Tränen, denn sie wird ihn nicht verraten. Im Interesse des Instituts.

 

Entfernte Welten

 

Carlos stolpert zur Fensterfront, hinter der, wie Ignacio sehnsüchtig phantasierte, die Sterne leuchten, und stammelt dessen Worte: "Diese weit entfernten Welten sind hier, hinter dem Glas. Erreichbar für unseren Blick, wenn wir ihn hätten."
Mit welch einfachen Mitteln der Spanier Antonio Buero-Vallejo in "Brennende Finsternis" eine spannende Geschichte mit ungemein vielen Ebenen erzählt! Die Blindheit, die dem Erblindeten einen Teil der Wahrnehmung raubt und so einen Teil der Wirklichkeit vorenthält, und der Versuch, dies zu verleugnen, gilt für den Umgang des Menschen mit sich und der Welt, für die Verweigerung von Erkenntnis. Blindheit steht aber auch für jedes totalitäre Staatssystem.
Das beginnt mit der automatenhaft hohlen Fröhlichkeit der Studenten, dieser "Fröhlichkeitsvergiftung", wie Ignacio (Alexander Simon, hager, wild, leidenschaftlich, poetisch) mit Bernhardscher Giftigkeit höhnt. Der schäbige Clubraum, einziges Bühnenbild (Daniel Roskamp) vor dunkelndem Tag, ist absurd hell erleuchtet. Weiß auch die gediegen häßlichen Röcke und Anzüge (Kostüme: Katharina Weissenbom), nur Ignacio trägt Schwarz.

 

Die Gefühle, der Krieg

 

"Ich bringe den Krieg", sagt er "Krieg" ist das verbotene Gefühl, Erinnerung an Leid und seine Wahrnehmung. Das Symbol dafür, tabu in der Idylle, schwingt Ignacio penetrant hörbar: den Blindenstock, die Krücke. Gefühle verstören. Mit "Krieg" wird Studentenführer Carlos (Thomas Hilmar Loibl) hinter der Fassade knirschender Disziplin und väterlicher Güte die Befleckung des Scheins beantworten - und die Untreue seiner Freundin Juana (Elina Benecke). Die übrigen sind mehr oder weniger differenzierte Mitläufer: Elisa, das Naturkind (Nicole Jenhs), der Leichtfuß Miguelin (Folker Klose), Andres (Roman Knizka), Esperanza (Silvia Rhode). Die Schüler der Bochumer Schauspielschule leisten in Schifflers Regie Beachtliches.
Denn das Stück ist auch eine zeitlose Paradoxie auf Tod und Leben: Der das Leben preisende Carlos meint ein mit Macht geschöntes, also ein eigentlich abgestorbenes Leben, betrogen um die Sehnsucht nach dem, was immer unsichtbar bleibt.
 


3/94

 

BOCHUM: Blinde sehen mehr - ein Triumph der jungen Spieler

 

Antonio Buero-Vallejo "Brennende Finsternis" (Schauspiel Bochum): Fröhliche junge Menschen im heiteren Gespräch, Studentenidylle zu Semesterbeginn. Nur eines fehlt: der Blick. Jede Zuwendung bleibt ungenau oder wird allzu direkt: Die Intimität auf mittlere Distanz, das einander Anschauen, das Bewußtsein des Wahrgenommenwerdens in der Wahrnehmung fehlt. Die Glücklichen sind blind.
Blindheit ist hier vor allem Metapher. Nur wofür? Die Unbestimmtheit der Bedeutung des Stückes läßt sich mit seiner Entstehung vielleicht begründen, aber nicht klären. Der dreißigjährige Buero-Vallejo schrieb es 1946, als er nach sechs Jahren Haft in den Gefängnissen Francos freigelassen wurde, ohne Paß, noch immer unter Polizeiaufsicht. In solcher Lage empfiehlt sich die indirekte Schreibweise. Sein zweites Stück, "Die Geschichte einer Treppe", in dem sowohl der solidarische Gewerkschafter als auch der egoistische Aufsteiger scheitern, war 1949 ein sensationeller Erfolg in Madrid und machte 1950 die Aufführung seines Erstlings möglich. Dies war der Beginn einer in Spanien viel beachteten, im übrigen Europa fast unbekannten Dramatikerkarriere.

 

Buero-Vallejo ist heute, nach über dreißig Stücken, der repräsentativste spanische Dramatiker der Nachkriegszeit. Ihm gelang es offensichtlich, sich einerseits mit der Franco-Zensur zu arrangieren und andererseits die Stimmung der zwar kritischen, aber nicht rebellischen Intelligenz zu formulieren. Sein tragisches Weltbild und sein Hang zur Vermittlung der Gegensätze machten ihn akzeptabel für die Franco-Anhänger, seine persönliche Integrität machte ihn zum Repräsentanten einer unauffälligen Reserve gegen das Regime. Politische Kritik wurde zunächst in Historienstücke verpackt, und erst nach dem Tode Francos schrieb Buero mit einem Anti-Folter-Stück offen gegen die Diktatur an.
Am Beginn dieses in Deutschland trotz einzelner Aufführungen so gut wie unbekannten Oeuvres steht das Gleichnis vom Glück der Blinden. In Don Pablos Blindenlehranstalt herrscht "eiserne Zuversicht". "Blinde" gibt es hier nicht, nur "Nicht-Sehende", der Defekt soll durch den Austausch der Worte zur Normalität erklärt werden. In diese schöne neue Welt der Blinden bricht das Unheil ein: Ignacio, ein "Nicht-Sehender", der darauf beharrt, ein "armer Blinder" zu sein. Er läßt nicht von seinem Blindenstock, dem Signal der Behinderung. Als eine Art "irrer Messias" will er den "Fröhlichkeitswahn" seiner Kommilitonen heilen, will sie erlösen zum Leiden. Er weiß um seinen Mangel und will doch sehen. So macht er sich und die anderen unglücklich.

 

Carlos, sein Widerpart, der lebenstüchtige Pragmatiker unter den blinden Studenten, bringt ihn schließlich um, weil er die Existenz des Institutes und die Zufriedenheit seiner Studenten gefährdet. Die Tat wird als Unfall vertuscht, und die Seelenfrieden stiftende Selbsttäuschung könnte wieder gepflegt werden. Doch der Mörder, der mordet, um das Glück zu erhalten, kann selbst nicht glücklich bleiben. Nun sehnt Carlos sich nach dem Licht der Sterne wie zuvor sein Opfer Ignacio. "Diese weit entfernten Welten sind hier, hinter dem Glas", so wiederholt Carlos in der Mordnacht Ignacios Klage am Fenster im Licht der Sterne stehend, "erreichbar für unseren Blick, wenn wir ihn hätten."

 

Die pessimistische Anthropologie; die Deutung des Menschen als Blindgeborenem, der immer weiß, daß ihm etwas fehlt, aber nie wissen kann, was ihm fehlt; die Polemik gegen das Glücksversprechen totalitärer Staaten; das Beharren auf der Unerlöstheit des Menschen und die Verweigerung irgendwelcher Erlösungsversprechen, das sind Positionen, die zur Entstehungszeit des Stückes in Mode waren, was diese Kriminalschmonzette mit tieferer Bedeutung heute jedoch nicht interessanter macht.
Kühn ist dagegen die Anforderung an die Schauspieler. Blinde unter sich zu spielen, zwingt zur Reflexion auf die Grundlagen des Schauspiels. Der Schauspieler zeigt sich wie der Blinde jemandem, den er nicht sieht. Die Blinden können den Blick der sehenden Zuschauer nicht wahrnehmen und existieren doch nur für ihn. Ein Schauspieler, der einen Blinden spielt, muß doppelt vom Zuschauer absehen, nicht nur von dem im Auditorium, sondern auch von dem auf der Bühne. Ein Zuschauer, der einem Schauspieler zusieht, der einen Blinden spielt, wird doppelt zum Voyeur. Der Schauspieler darf, der Blinde kann den Blick nicht erwidern. Nur der Zuschauer kann wissen, was ohne Worte auf der Bühne geschieht, wer lauscht, wer schleicht, wer tastet.

 

Sehenswert ist, wie die Bochumer Aufführung diese Aufgabe bewältigt. Sieben Schauspielschüler der Westfälischen Schauspielschule Bochum spielen die Studentengruppe mit erstaunlicher Konzentration und Präzision Eine Liebesszene zwischen Ignacio (Alexander Simon) und Juana (Elina Benecke) wird zur Studie über Wunder und Not der Begegnung durch Berührung, die redselige, pathetische Abrechnung zwischen Carlos (Thomas Hilmar Loibl) und Ignacio wird zu einer fast regungslosen, weil ohne optische Einschüchterung des Gegners auskommenden, aber dennoch körperlichen Konfrontation. Die angemessen unauffällige Inszenierung des jungen Regisseurs Karsten Schiffler erzielt ihre Wirkungen aus zurückhaltendster Verinnerlichung. Wie Blindheit die Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Sinne erst voll entfaltet, so hat ihre Darstellung die Fähigkeiten der jungen Schauspieler entfaltet.
Gerhard Preußer - Theaterheute


Bonner Generalanzeiger, 11.1.1994

 

Fröhlichkeitsvergiftung
"Brennende Finsternis": Deutsche Erstaufführung im Bochumer Schauspiel

 

Von Dietmar Kanthak
Ignacio ist ein Zweifler. Der neue Student im Blinden-Institut von Don Pablo kann der permanenten Heiterkeit der "NichtSehenden", dem ständig behaupteten Selbstbewußtsein seiner Kommilitonen nichts abgewinnen. Der Absicht, ihm die in dem Institut vorherrschende "eiserne Zuversicht" einzuflößen, widersetzt sich der blinde Ignacio mit Kräften. An einer "Fröhlichkeitsvergiftung" möchte er nicht zugrundegehen, statt sich in sein Schicksal zu fügen, will er nur eins: sehen. "In mir brennt ein schreckliches Feuer, das mich nicht leben läßt. Ich brenne in dem, was die Sehenden Finsternis nennen, und diese Finsternis ist schrecklich, weil wir nicht wissen, was sie ist."

 

In seinem 1946 entstandenen Stück "Brennende Finsternis" schickt der spanische Autor Antonio Buero-Vallejo einen Außenseiter in eine geschlossene Gesellschaft. Der junge Ignacio bringt die vermeintlich heile Welt eines fortschrittlichen Blinden-Instituts durcheinander, er entzaubert den Schein, die Heuchelei und Eitelkeit des Unternehmens. Am Ende ist der Oppositionelle tot: Ob dies seiner eigenen Todessehnsucht oder - wahrscheinlicher - den Schlägen von Carlos zu verdanken ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen.

 

Zweifel und Zuversicht, Mitleid und Liebe
In die Bochumer Kammerspiele hat Daniel Roskamp einen großen hellen Aufenthaltsraum gebaut, der aussieht wie ein Wartezimmer. Dort wird gestritten, geliebt, intrigiert und gekämpft. Ignacio, der die Fröhlichkeits-Ideologie des Instituts entlarvt und die Selbstgewißheit der anderen jungen Leute erschüttert, besitzt bei Alexander Simon eine verzweifelte Renitenz. Er sehnt sich nach Liebe, kann sich aber nicht in einem aus Lügen und Illusionen gebauten System einrichten. Darüber wird - zu zweit, zu dritt, in der Gruppe debattiert, ebenso wie über den Konflikt zwischen Zweifel und Zuversicht, Mitleid und Liebe. Der Autor läßt unterschiedliche Ansichten und Charaktere aufeinanderprallen: Daraus bezieht das wortreiche Stück seine Dynamik und Spannung.

 

Karsten Schifflers Inszenierung, eine Zusammenarbeit zwischen Schauspiel und Westfälischer Schauspielschule Bochum, zaubert eine Atmosphäre von Revolte und Resignation herbei, ein komplexes Geflecht aus permanenter Selbstbeobachtung und Überwachung, sie lotet die seelischen Korrespondenzen und Differenzen der Figuren aus. Das vornehmlich junge Ensemble - neben Simon spielen Nicole Jenhs, Roman Knizka, Thomas Hilmar Loibl, Elina Benecke, Folker Klose und Silvia Rhode - folgt den Verästelungen des Textes mit bewundernswerter Intensität. Thomas Hilmar Loibl als Carlos ist Ignacios Gegenspieler, ein Technokrat der Macht, ein beredter Anwalt des Systems; zu sensibel jedoch, um an die Heilsgewißheit seines Tuns wirklich zu glauben.

 

Die herausragende Bochumer Produktion zeigt menschliche Konflikte, wird aber auch dem Gleichnischarakter des Stückes gerecht. Ignacios Auflehnung gegen die soziale Utopie des Blinden-Instituts kann man als Protest gegen jede Art von totalitärer Glücksverheißung verstehen.

 

Buero-Vallejo schrieb das Drama kurz nach seiner Haft in Gefängnissen und Konzentrationslagern des Franco-Regimes. Während des Bürgerkrieges hatte er auf seiten der spanischen Republik gekämpft, nach dem Sieg der Faschisten im Jahr 1939 wurde er verhaftet und wegen "Beteiligung an der Rebellion" zum Tode verurteilt; später wurde das Urteil in eine Haftstrafe umgewandelt.


14.5.1994

 

 

Glücksfall, Sündenfall, Trauerfall

"Brennende Finsternis" aus Bochum glänzt beim Theatertreffen

 


Alles kam auf einmal: ein Stück, ein Autor, eine Inszenierung, ein Regisseur und ein Ensemble waren zu entdecken, sieben Jugendliche, die es fertigbrachten, sich dem Zuschauer innerhalb weniger Minuten als Charaktere einzuprägen, jeder mit seinem Beitrag zu der Atmosphäre aus verschworenem Beisammensein und tastendem Dasein; ihrem Helldunkel. Sieben junge Krüppel in ihrem Gemeinschaftsraum. Keiner von ihnen hat je das Licht der Welt erblickt. Sie sind alle blind.

 

Das Theatertreffen hatte die Güte, Berlin mit dem Bochumer Gastspiel zu konfrontieren: "Brennende Finsternis" von Antonio Buero-Vallejo, der deutschen Erstaufführung des spanischen Gesellschaftsdramas unter der Regie eines Anfängers, Karsten Schiffler, mit Studenten der Westfälischen Schauspielschule Bochum und drei Darstellern vom Bochumer Schauspielhaus als den älteren Herrschaften. Die Novität ist bald fünfzig Jahre alt, 1950 in Madrid uraufgeführt. Der Verfasser kam aus dem Gefängnis. Er war vom Franco-Regime zum Tod verurteilt, aber nicht hingerichtet worden. Unmittelbar nach der Entlassung schrieb er das Stück, das unter den Zöglingen einer Blindenschule spielt. Er selber war nicht viel älter als seine Figuren. Ihre Heimsuchung ist doppelt. Zum angeborenen Leiden kommt der gesellschaftliche Zwang. Man verlangt von ihnen, fröhlich in die Zukunft zu schauen. Ihre Erzieher schwören sie auf den Optimismus ein. Die eiserne Zuversicht ist das Schlagwort, und der Befehl zum Normalsein klingt unmenschlich.

 

Dagegen bringt die Bochumer Inszenierung das Wunder fertig, der Gesellschaftskritik den Stachel zu nehmen. Sie schafft keine Fronten, Unterdrücker und Opfer. Im lichten Bühnenraum, den Daniel Roskamp in Erinnerung an Karl-Ernst Herrmanns schönste Glasgehäuse vor einer breiten Fensterwand etabliert hat, durchflutet von Klar- und Nüchternheit, herrscht eine paradiesische Gleichheit. Kein Einäugiger ist hier König. Das Gebot, die Kranken seien gesund, wird von den jungen Schauspieler zwanglos erfüllt. Am Gebrechen besteht kein Zweifel, der Zuschauer sieht auf den ersten Blick, daß alle in der Runde mit Blindheit geschlagen sind, aber er nimmt beim besten Willen keinen Appell an sein Mitleid wahr.

 

Die Jugend unter sich hebt ihr gemeinsames Schicksal geheimnisvoll auf. Der Umgang mit der tragischen Defektheit wirkt unbeschwert. Gangart und Gebärden sind trotz der tastenden Absicherung mühelos. Die Klausur hat den Anschein einer zweiten Natur. Ihre Adepten sind keine Kinder von Traurigkeit, sondern beschwingte Wesen. Macht uns die Inszenierung ein Märchen vor?

Ihr Risiko ist die Balance zwischen den Realitäten. Sie will die Krankheit wahrmachen, aber mehr als deren Beschreibung sein. Dem jungen Regisseur gelingt es halbwegs und noch ein Stück weit darüber hinaus, beide Trivialitäten aus dem Spiel zu entfernen: sowohl das realistische Nachäffen als auch die bloße Metaphorik. Seine Schauspieler machen uns nicht täuschend echt das Blindsein vor, sondern stellen glaubwürdig dar, daß die Intimität, in der sie gemeinsam geborgen sind, aus dem Spüren und Fühlen kommt. Das Tabu, "faß mich nicht an", hat sich erübrigt. Es gibt keinen anderen Kontakt als einander zu berühren und zu betasten. Die Liebe ist hier im Heim das Natürlichste auf der Welt. Das Drama erscheint in der Gestalt eines Verweigerers. Ignacio will sich dem Asyl nicht assimilieren. Er beharrt auf seinem Recht, ein tragischer Fall zu sein, ein Blinder. Er bringt seinen Kameraden die verpönte Trauer bei: die verzweifelte Sehnsucht nach dem Augenschein. Alexander Simon, der den Dunkelmann spielt, ist so jung wie alle anderen im Kreis, aber hinter der schwarzen Brille nicht ihr Freund, sondern der Engel, der mit ihnen ringt. Sie sollen begreifen, daß sie Krüppel sind. Weder die Inszenierung noch das Stück verteufeln den Fremden. Der Zuschauer muß selber entscheiden, ob er den Sündenfall dem paradiesischen Zustand vorzieht.
Sibylle Wirsing


14.5.1994

 

Schauspiel-Studenten machen gute Figur
"Brennende Finsternis" aus Bochum beim Berliner Theatertreffen

 


Wenn ein Theaterstück nüchtern, mit akademischer Klarsicht und Ehrfurcht vor der literarischen Vorlage auf die Bühne gebracht wird, sind manche versucht, von inszenatorischem Magerquark zu reden. Wie schön, daß solche bornierten Vorurteile immer wieder als unbegründet zurückgewiesen werden. So geschehen beim Theatertreffen-Gastspiel des Bochumer Schauspielhauses am Halleschen Ufer.

 

In Koproduktion mit Studenten der Westfälischen Schauspielschule verleiht Karsten Schiffler, der Regisseur, einem dramatischen Edelstein brillanten Schliff. Das bei uns bislang unbekannte, in Spanien 1950 uraufgeführte Stück "Brennende Finsternis" des 1916 geborenen Autors Antonio Buero-Vallejo ist eine Parabel auf diktatorische Zwangsmechanismen.

 

"Brennende Finsternis" spielt in einer Blindenanstalt, in der alle Insassen in buchstäblich blindem Vertrauen einer optimistischen Lebensdoktrin unterliegen. Doch als Ignacio (Alexander Simon), der Neuankömmling, in diese Gruppe eingegliedert werden soll, gerät das ganze System ins Wanken.
Ignacio behält seinen Blindenstock, um sich in der Anstalt orientieren zu können, während die anderen auf ihr trainiertes Raumgefühl vertrauen und in einer geradezu zwanghaften Fröhlichkeit in den Tag hineinleben. Ignacio - das ist der Fremde, der Andersdenkende, der gefährliche Skeptiker und Systemkritiker. "Ihr habt eine Fröhlichkeitsvergiftung!", wirft er den anderen vor.
Seine Außenseiterrolle verdeutlicht die Kostüm-Designerin Katharina Weissenborn durch Ignacios schwarzen Anzug, alle anderen sind hell gekleidet. Trotz der immer stärker werdenden Drucks aus der Gruppe will Ignacio das Heim nicht verlassen. Daß alle erleichtert sind, als der Außenseiter eines Nachts auf dem Sportplatz ermordet wird, ist die logische Konsequenz. Obwohl es eine Zeugin gibt, wird der Täter gedeckt.

 

Die Blindenastalt steht für die Gesellschaft im francistischen Spanien. Der Autor selbst wurde 1939 von den Faschisten wegen "Beteiligung an der Rebellion" zum Tode verurteilt, später aber wieder rehabilitiert. Trotz schärfster Zensurmaßnahmen konnte er sich in den fünfziger Jahren als einer der führenden Theaterautoren des Landes durchsetzen.

 

Minuziöse Charakterstudien und großes Einfühlungsvermögen sind neben der klaren Regie-Führung die Pluspunkte dieser Aufführung. Gut, daß die Bochumer an die Spree gekommen sind. Ursprünglich wollten die nordrhein-westfälischen Theater das Festival aus Protest gegen die Staatsbühnen-Schließung in Berlin boykottieren. Man hat sich dann doch entschlossen, der Einladung zu folgen; um den Schauspiel-Studenten das für sie wichtige Forum des Festivals nicht vorzuenthalten. Diese Begründung wurde nach der Vorstellung verlesen. Sie kann getrost unterschrieben werden.
Volker Oesterreich - Berliner Morgenpost 


14.5.1994

 

"Der reiche Freund" und die "Brennende Finsternis"

 

Von L. SCHMIDT-MÜHLISCH
Die "Erneuerungs"-Emphase der Jury hat dem Berliner Theatertreffen eine Inszenierung besonderer Art beschert: Der Festival-Beitrag vom traditionsreichen Schauspielhaus Bochum wird nur von Schauspielschülern bestritten. Was das Stück selbst angeht, ist zumindest der Neuigkeitswert bescheiden. Antonio Buero-Vallejos "Brennende Finsternis", aus Spanien zur Deutschen Erstaufführung nach Bochum geholt, erlebte schon 1950 in Madrid seine Bühnengeburt. Es ist ein schwieriges Stück, ein dialektisches, ja, paradoxes, was die Bochumer ins Theater am Halleschen Ufer brachten. Am Ende findet der Mörder erlöst zu seinem Opfer: Er hat im Grunde nichts anderes versucht, als eine Stimme in sich selbst zu töten; nun kann er ihr endlich furchtlos lauschen.

 

Trotz aller Problematik bleibt es - auch beim Wiedersehen in Berlin - eigentlich unverständlich, warum das deutsche Theater bislang kaum Kenntnis von einem der führenden spanischen Gegenwartsdramatiker genommen hat. Buero-Vallejo, 1916 in Guadalajara geboren, widmet sich in Dramen wie "Die Geschichte einer Treppe" (1949) immer wieder den Sinnfragen des Daseins, der Überwindung einer tristen Alltäglichkeit.

 

Im Grunde geht es auch in "Brennende Finsternis" um dieses Problem. In einer Art Trainingscamp lernen Blinde, ihr "Nicht-Sehen" positiv zu überwinden, das heißt, sich vom Außenseiter-Status zu befreien. Daß dabei auch Überkompensationen im Sinne einer Leugnung des Blindseins geschehen, schafft den Hintergrund für eine tragische Entwicklung besonderer Art: In die Gemeinschaft kommt einer, Ignacio (Alexander Simon), der auf seiner Dunkelheit beharrt, auf seinem Leiden, auf seiner Klage. Er gefährdet die Gemeinschaft, vor allem deren Leitfigur Carlos (Thomas Hilmar Loibl). Zwei einseitige Daseinsperspektiven, die einander zu ergänzen hätten, führen zu einem Mord, die Gemeinschaft entledigt sich des Außenseiters.

 

Es ist der sachlichen, nie einseitigen Regie von Karsten Schiffler im erfreulich unprätentiösen (fast ein Labor für Psycho-Experimente) Bühnenbild von Daniel Roskamp zu danken, daß daraus kein Melodram wurde. Karsten Schiffler gibt keinem recht, vertieft sich auch nicht in eine ausufernde Charakter-Psychologie. Blindheit ist ihm ein Gleichnis: Wie finden wir aus der Finsternis in uns selbst heraus, ständig bedroht von Selbsttäuschung und selbstquälerischer Lust am Leid?
Bochumer Schauspielschüler geben diesem Stück eine Authentizität, die nicht nur handwerklich, sondern sehr persönlich begründet ist.

DIE WELT 


30.5.1994

 

"Höhepunkt des Theatertreffens"
"Brennende Finsternis" begeistert in Berlin

 

Glücklich kehrte das junge Ensemble vom Berliner Theatertreffen zurück. Karsten Schifflers Debütregie von "Brennende Finsternis" kam in der Bundeshauptstadt glänzend an. Die "Tageszeitung" nannte die Inszenierung den "Höhepunkt des Treffens".

 

Es sei der "sachlichen, nie einseitigen Regie von Karsten Schiffler zu danken", daß aus "Brennende Finsternis" kein "Melodram" wurde, meinte "Die Welt". Karsten Schiffler gebe keinem recht, vertiefe sich auch nicht in eine "ausufernde Charakter-Psychostudie". In Buero-Vallejos Stück geht es bekanntlich um nichtsehende Jungendliche, deren verordnete Fröhlichkeit durch einen ebenfalls blinden Neuankömmling nachhaltig gestört wird.

 

Zu den besonderen Anforderungen an die SchauspielschülerInnen bei der Einstudierung meint die "Neue Zeit", sie hätten diese "mit äußerster Präzision" bewältigt. Ihnen sei gelungen, "die Empfindlichkeit der verbliebenen. Sinne auf der Bühne zu zeigen". Und die BZ lobt: "Die jungen Darsteller fühlen sich perfekt in die Welt der Blinden ein."

 

Ein wenig Mäkelei kann sich allerdings das "Neue Deutschland" nicht verkneifen: Zwar wird auch hier die Leistung der Bochumer als "gefeiertes Novum" gelobt. Jedoch merkt das ND im Hinblick auf ostdeutsche Theaterschulen an: "Sie hätten wohl Stärkeres, professionell Überzeugenderes anzubieten."
Dessen ungeachtet faßt die Berliner Morgenpost zusammen: "Gut, daß die Bochumer an die Spree gekommen sind."

Werner Streletz